Dušan Reljić, Balkan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, erwartet zwar keinen Bürgerkrieg in Mazedonien. Er fordert aber von der Europäischen Union eine wirtschaftliche und diplomatische Offensive, um die politische Krise in Mazedonien und auf dem Westbalkan zu überwinden und die tiefe Armut und Perspektivlosigkeit in der Region nachhaltig zu bekämpfen.
Herr Reljić, wie beurteilen Sie den so genannten Anti-Terror-Einsatz der mazedonischen Regierung in Kumanovo vom 9. Mai? Viele Beobachter in Mazedonien und ein großer Teil der dortigen Öffentlichkeit glaubt, dass die Gruevski-Regierung die Kämpfe mit den angeblichen Terroristen inszeniert hat, um von der Unzurfiedenheit mit ihrer Politik abzulenken.
Die These einer Inszenierung in Kumanovo greift zu kurz. Sicher, anfangs nützte der Vorfall in Kumanovo der Regierung, denn wenn das Vaterland in Gefahr ist, demonstriert man nicht mehr gegen die Regierung. Doch als plötzlich von vielen Toten die Rede war, geriet die Situation außer Kontrolle, zu diesem Zeitpunkt geriet auch die Regierung unter Druck, denn in den Augen der Öffentlichkeit hatte sie ihre Inkompetenz erwiesen.
Was spricht denn gegen die These einer Inszenierung?
In der gesamten Region sind nach wie vor sehr viele Waffen im Umlauf, und besonders bei den Albanern, gibt es eine lange, starke Tradiition, Waffen zu besitzen, die nie gebrochen wurde. Und dann sind da noch die Reste der UCK, die sich jetzt ANA nennen. Auch ein paar der Getöteten gehörten zu den bekannten Gesichtern der UCK/ANA. Man ließ ihnen sogar ein halb-offizielles Begräbnis in Kosovo zukommen. Die Grenze zwischen diesen Resten der UCK und der organisierten Kriminialität war nie klar zu erkennen, so wie überhaupt die Grenze zwischen den Regierungen in der Region und der organisierten Kriminalität, und das gilt auch für Mazedonien, sehr fließend ist.
Summa summarum – wie interpretieren Sie den Anti-Terror-Einsatz von Kumanovo?
Es ist sehr schwierig, zu diesem Zeitpunkt etwas Gesichertes zu sagen. Möglicherweise spielen bei dem Vorfall von Kumanovo kriminelle Motive ebenso eine Rolle wie politische. In jedem Fall war eine Gruppe bereit, mit Waffen gegen die Polizei vorzugehen. Das bedeutet, dass die politische Situation in Mazedonien nicht stabil ist und dass es Gruppen gibt, die das Machtmonopol des Staates immer wieder in Frage stellen.
Nach dem Anti-Terror-Einsatz ist die westliche Gemeinschaft aktiv geworden. Sie hat versucht, zwischen Regierung und Opposition zu vermitteln und die Opposition, namentlich die Sozialdemokraten, dazu zu bewegen, ins Parlament zurückzukehren – seit den Wahlen im April letzten Jahres boykottiert ja die Opposition die Parlamentsarbeit. Wie beurteilen Sie diese Vermittlungsversuche?
Nach allem was geschehen ist, fällt es der Opposition verständlicherweise sehr schwer ins Parlament zurückzukehren. Vergessen wir nicht, dass sie schon am 24. Dezember 2012 mit Gewalt aus dem Parlament herausgeworfen wurde. Um die Situation zu entschärfen, müsste es jetzt eigentlich ein Abkommen geben, dass einen Ausweg aus der Institutionskrise zeigt, und das kann nur in einer vorgezogenen Wahl unter strengster internationaler Beobachtung bestehen, denn die Wahlen im April letzten Jahres war in sehr großem Maße manipuliert.
„Es wird derzeit keinen Bürgerkrieg geben, aber Mazedonien ist tief gespalten.“
Was verstehen Sie unter Institutionskrise in Mazedonien?
Die Institutionen in Mazedonien tun nicht, was sie sollen, das sieht man ja unter anderem seit dem Abhörskandal. Rechtsbruch und Kriminalität gehen in Mazedonien direkt aus dem Staat hervor.
Steht das Land jetzt vor einem Bürgerkrieg?
Mazedonien ist doppelt gespalten, ethnisch und zugleich innerhalb slawischen Mehrheit zwischen rechtskonservativer Regierungsmehrheit und oppositionellen Sozialdemokraten bzw. überhaupt der bürgerlich-liberalen Opposition. Das ist eine sehr tiefe Spaltung. Nichtsdestotrotz denke ich jedoch, dass es derzeit nicht zu einem Bürgerkrieg kommen wird. Nicht ethnisch, denn für die Albaner gibt es momentan keine Gewaltoption. Der Vorfall von Kumanovo hat ihnen eher geschadet, er hat auch der Fürhung im Kosovo und in Albanien geschadet, denn er zeigte, dass es da noch einen albanischen Untergrund gibt. Auch innerhalb der slawischen Mehrheit wird es derzeit keinen Bürgerkrieg geben, denn die Regierungskräfte kontrollieren den Sicherheitsapparat und die Polizei, da ist die Opposition nicht in der Lage, sich auf ein Kräftemessen einzulassen. Aber die politischen Spannungen werden weiter anhalten, der Regierungschef Nikola Gruevski ist angeschlagen, und es kann durchaus sein, dass sich Geheimdienst- und Sicherheitsapparat von ihm lossagen, wenn sie meinen, dass der Westen ihn fallen lässt.
„Der Kampf um staatlichen Ressourcen auf dem Westbalkan wird immer heftiger, deshalb immer mehr Rechtsbeugung, immer weniger Demokratie.“
Stichwort Rechtsbruch und Kriminalität, die aus dem Staat hevvorgehen. Das ist nicht nur in Mazedonien der Fall.
In der gesamten Region erlebt man etwas, was ich als eine Orbánisierung der politischen Systeme bezeichne. Was wir in Ungarn sehen, die Methode des Rechtspopulismus, das gibt es auch in Serbien, Montenegro und Mazedonien, bis in Türkei hinein. Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist der Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung in Südosteuropa, auch unter dem Einfluss der Finanzkrise in der EU und des Umstandes, dass der Transformationsprozess nicht die Ergebnisse gebracht hat, die er versprach. Deshalb der immer heftigere Kampf um die Kontrolle über den Staat, um die staatlichen Ressourcen, deshalb immer mehr Rechtsbeugung, immer weniger Demokratie.
Westliche Länder arbeiten mit Regierungen auf dem Westbalkan, die Rechtsbruch und Kriminalität praktizieren, seit langem zusammen. Das Motto scheint zu sein: Stabilität ist alles, demokratische und rechtsstaatliche Werte treten demgegenüber in den Hintergrund.
Seien wir realistisch. Der Westen kann sich die Leute, mit denen er zu tun hat, nicht auswählen. Viele Regierungschefs auf dem Westbalkan sind ja auch viele gewählt worden. Natürlich muss man auf rechtsstaatliche Standards achten, aber Herr Thaci wurde ja gewählt, auch Herr Gruevski bei relativ fairen Wahlen, nicht beim letzten Mal, aber beim vorletzten Mal.
„Es ist eine wirtschaftliche und diplomatische Offensive notwendig, um Armut und Perspektivlosigkeit zu bekämpfen.“
Sollten westliche Länder die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards künftig mehr betonen?
Natürlich. Aber das wichtigste für Südosteuropa wäre eine beschleunigte Wirtschaftsentwicklung. Die zwei Länder mit der größten Arbeitslosenquote sind Mazedonien und Kosovo. Armut und Perspektivlosigkeit sind die Quellen, aus denen sich die Unzufriedenheit in der Region und letztlich auch eine bestimmte politische Entwicklung speist. Die bisherigen Instrumente des Westens, der Erweiterungspolitik der EU, mit denen man glaubte, die Probleme lösen zu können, reichen nicht aus. Es ist eine wirtschaftliche und diplomatische Offensive notwendig, um Armut und Perspektivlosigkeit zu bekämpfen.
Wie könnte das aussehen? Die EU-Perspektive für die Länder des Westbalkans ist sehr vage. Ist das ein Fehler?
Die Erweiterungspolitik ist in den alten Mitgliedsländern derzeit nicht populär, darauf haben auch viele Politiker reagiert, nämlich, indem sie den Druck von Seiten populistischer Kräfte mit der Aussage abzuwehren versuchen, dass es in den nächsten Jahren keine Erweiterung geben werde und keine weiteren Problemfälle in die EU kämen. Nur: wenn die EU-Perspektive für die Länder des Westbalkan wegbricht, dann suchen sie nach Alternativen, und dann melden sich auch Alternativen. Islamische Kräfte versuchen, auf dem Westbalkan Fuß zu fassen, seit Jahren will sich die Türkei dort als regionale Führungsmacht etablieren, und wir haben Russland, dass sich ärgert, weil es dort aus seiner jahrhundertealten Rolle weggedrängt wurde. Es gibt viele Optionen, und viele sind unerfreulich. Deshalb werden die EU und der Westen mehr Aufmerksamkeit und Energie und Ressourcen aufwenden müssen, um die Situation auf dem Westbalkan wieder zu stabilisieren.
Interview: Keno Verseck
Dr. phil. Dušan Reljić, arbeitete von 1979-1992 als Journalist der jugoslawischen Nachrichtenagentur Tanjug und war unter anderen Korrepsondent in Bonn (1986-1990), 1992/1993 leitete er das Außenpolitik-Ressort des Belgrader Nachrichtenmagazins Vreme und arbeitete danach als Redakteur bei Radio Free Europe in München. Derzeit leitet er das Brüsseler Büro der Stiftung Wissenschaft und Politik.