Ungarns Premier Viktor Orban spricht am 15. März 2025 vor dem Nationalmuseum in Budapest
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Empörung über das Pride-Verbot in Ungarn: Kritiker werfen Premier Orban „Faschismus“ und eine Annäherung an das Modell Putin vor. Ein weiteres Ziel sei es jedoch, von Korruptionsskandalen im System Orban abzulenken.
Wehrmachtsuniformen und Kampfanzüge mit russischen Fahnen darauf, SS-Symbole, der Buchstabe Z, Hakenkreuze – die Neonazis sind martialisch gekleidet. Sie marschieren zu Hunderten im Herzen von Budapest, auf der Budaer Burg. Der Amtssitz des ungarischen Premiers Viktor Orban ist nicht weit weg. Es ist eine Neonazi-Gedenkveranstaltung im Februar 2025, sie findet in Budapest jedes Jahr zu dieser Zeit statt.
In Ungarn ist es zwar gesetzlich verboten, in Uniformen zu demonstrieren und totalitäre Symbole zu tragen. Doch Orbans Regierung lässt die Neonazis und Putin-Anhänger jedes Jahr ungestraft aufmarschieren.

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Anders im Falle so genannter „LGBTQ-Propaganda“. So erhielt im Juli 2023 ein Budapester Buchladen eine Geldstrafe von umgerechnet 32.000 Euro, weil ein Comic über zwei schwule Jungen im Bücherregal stand und so für Minderjährige sichtbar war. Das gilt in Ungarn als „LGBTQ-Propaganda“ und ist verboten.
„Schattenarmee liquidieren“
Mit dem Argument des Kinderschutzes hat Orbans Regierungsmehrheit nun auch die „Pride-Paraden“ verboten, Aufzüge queerer Menschen, in denen diese für Vielfalt und Toleranz werben. Eine entsprechende Verfassungsänderung wurde im Eilverfahren durch das Parlament gepeitscht, nur wenige Stunden später unterschrieb Staatspräsident Tamas Sulyok das Gesetz.
Damit dürfen keine öffentlichen Versammlungen mehr stattfinden, auf denen queere Symbole wie Regenbogenfahnen gezeigt werden, Sexualität „als Selbstzweck“ präsentiert wird oder sich Menschen „abweichend von ihrem Geburtsgeschlecht“ kleiden. Eine Zuwiderhandlung wird mit umgerechnet bis zu 550 Euro Geldstrafe geahndet, etwas weniger als der gesetzliche ungarische Mindestlohn.

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Das Pride-Verbot ist die jüngste Episode in einer neuen Offensive Viktor Orbans gegen alle seine vermeintlichen oder realen Kritiker und Gegner. Ungarns Premier hat bereits seit Jahresanfang und zuletzt in einer Rede am 15. März, dem ungarischen Nationalfeiertag, ein „Großreinemachen bis Ostern“ versprochen.
Seine Kritiker nannte er in der Feiertagsrede „Wanzen“, die man „liquidieren“ werde: „Die Wanzen haben überwintert. Wir werden die Finanzmaschinerie liquidieren, die mit korrupten Dollars Politiker, Richter, Journalisten und pseudozivile Organisationen und politische Aktivisten gekauft hat. Wir werden die gesamte Schattenarmee liquidieren.“
Dehumanisierung aller Kritiker
In Ungarn sind all jene, die anders denken als Orban, bereits einiges gewohnt vom Ministerpräsidenten. In den vergangenen Wochen etwa fand in nie dagewesener Schärfe eine Regierungskampagne gegen angebliche korrupte Empfänger von USAID-Geldern statt. Das „Souveränitätsamt“, eine Propagandabehörde Orbans, beschuldigt wahrheitswidrig beispielsweise das beliebte unabhängige News-Portal Telex, überwiegend aus ausländischen Quellen wie USAID bezahlt zu sein und somit ausländische Interessen zu vertreten – also letztlich Vaterlandsverrat zu betreiben.

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Doch pauschal als „Wanzen“ bezeichnet zu werden, schockiert selbst hartgesottene Oppositionspolitiker und unabhängige Journalisten, die schon so manche Schikanen erdulden mussten. Viele sprechen von „Dehumanisierung“ aller Kritiker, vom „aufziehenden Faschismus“ und einer „rasanten Putinisierung“ in Ungarn.
Tatsächlich ist es das erste Mal, dass Orban eine solchen „Schädlingsbekämpfungs“-Rhetorik benutzt, die gleichermaßen an den Sprachgebrauch der deutschen Nationalsozialisten wie der sowjetischen Stalinisten in den 1930er Jahren erinnert. Der prominente ungarische Politologe Gabor Török, sonst in seinen Einschätzungen eher vorsichtig, bezeichnet die „Wanzen“-Rede Orbans als „Grenzüberschreitung“ – freilich auch eine, die dem Premier und seiner Partei letztlich schaden könne.
Unzufriedenheit mit Orban wächst
In der Tat ist das jetzige „Großreinemachen“ Orbans sowohl ein Ablenkungsmanöver als auch Ausdruck seiner Angst, die Macht zu verlieren. Denn schon seit längerem wächst die Unzufriedenheit mit dem Premier und seiner sogenannten „Ordnung der nationalen Zusammenarbeit“ (NER). Im Augenblick stehen die Zeichen für die Parlamentswahl im Frühjahr 2026 auf einen Machtwechsel.
Ungarns Wirtschaft steckt zwar nicht in einer schweren Krise, kommt aber aus einem seit längerem andauernden Tief nicht heraus. Die Inflation ist hoch und trifft vor allem Durchschnittsbürger. Maßnahmen, mit denen die Regierung gegensteuern will, beispielsweise Preisstopps, greifen nicht oder unterstützen nicht die wirklich Bedürftigen.
Der Zollkrieg von US-Präsident Donald Trump könnte das in hohem Maße von der deutschen Automobilindustrie abhängige Ungarn in eine Krise stürzen. Hinzu kommt, dass das Bildungs- und Gesundheitswesen und die öffentliche Infrastruktur Ungarns in einem schlechten Zustand sind. Der Fußballnarr Orban lässt hingegen in gigantische Stadien und Sportstätten investieren.
Korruption und Vetternwirtschaft
Auch tritt immer mehr zutage, wie korrupt das Orban-System ist und in welchem Maße Orbans Familienmitglieder, Parteifreunde und politische Verbündete von der herrschenden Vetternwirtschaft profitieren. Kürzlich veröffentlichten Investigativjournalisten des Portals Direkt36 den Film „Die Dynastie“ über den erstaunlichen Aufstieg der Familie Orban aus eher ärmlichen Verhältnissen zu einer Milliardärsdynastie, ein Aufstieg der mit Orbans politischen Ämtern verknüpft ist. Den Film sahen bisher dreieinhalb Millionen Menschen – bei einer Bevölkerung von 9,5 Millionen in Ungarn.
Direkt36 veröffentlichte erst in dieser Woche wieder einen Bericht über Korruption und Veruntreuung – diesmal in der Ungarischen Nationalbank (MNB) unter ihrem ehemaligen Chef György Matolcsy, der seiner Familie und vor allem seinem Sohn aus MNB-Mitteln und über eine undurchsichtige Stiftungskonstruktion ein Luxusleben ermöglichte. Sogar der ungarische Rechnungshof (ASZ) ermittelt nun.

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Sichtbar wird die Unzufriedenheit mit diesen Zuständen im Erfolg des Oppositionspolitikers Peter Magyar. Der Renegat aus Orbans System, noch vor einem Jahr nahezu unbekannt, eilt mit seiner Partei Tisza (Respekt und Freiheit) zu immer neuen Umfrageerfolgen. Inzwischen liegt Tisza in einigen Umfragen deutlich vor Orbans Partei Fidesz, Magyar selbst ist zur Zeit der populärste Politiker.
Wie weit geht Orban?
Es liegt in der Natur eines Systems wie das des ungarischen Premiers, dass es zunehmend ins Autoritäre und Diktatorische abdriftet. Denn wenn in Ungarn ein Machtwechsel stattfände, drohen Orban und seinem Zirkel von Machthabern und Oligarchen Enteignungen, Anklagen und Gefängnisstrafen. Aus dieser Perspektive erscheint es logisch, dass Orban derzeit massiv an der Eskalationsspirale dreht. In der Diskussion sind beispielweise Ausbürgerungen von Kritikern, wenn sie über doppelte Staatsbürgerschaften verfügen. Das Ziel ist nicht nur, kritische Stimmen in Ungarn unhörbar zu machen, sondern auch eine maximale Polarisierung der Gesellschaft vor der Parlamentswahl zu erreichen.

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Ob Orban unter „Liquidierung der Wanzen“ auch versteht, physisch gegen seine gefährlichsten Gegner vorzugehen, etwa mit Hilfe von inszenierten Unfällen, Giftanschlägen oder Morden wie in Russland, Ungarns engem Partner, ist offen. Noch ist Peter Magyar „nur“ tägliches Thema in Orbans Propagandamedien.
Dieser Tage jedoch ließ der Oppositionspolitiker durchblicken, dass er bereits jetzt rund um die Uhr überwacht wird. Unter einem Facebook-Foto, das ihn und seine neue Freundin zeigt, schrieb er: „Liebe Propagandisten, ihr braucht nicht nachts hinter einem Auto zu frieren und die Nachbarn zu belästigen. Ja, sie + ich = wir.“ Dahinter formen zwei Hände ein Herz.