Klischees der Schrecken – Schrecken der Klischees

 

Vorwort

 

Rumänien liegt drei Flugstunden oder einen halben Tag Autofahrt entfernt von Deutschland. Man braucht schon seit einigen Jahren kein Visum mehr, um nach Rumänien zu fahren. Doch für die meisten Menschen in Deutschland ist Rumänien weiter entfernt als manche Urlaubsziele in Südostasien.

Die deutsche Industrie, deutsche Banken und sogar der deutsche Mittelstand haben Rumänien in den vergangenen Jahren als attraktiven Investitions- und Produktionsstandort entdeckt. Es gibt im Land Callcenter, die für den Kundenservice deutscher Firmen arbeiten. Und: Rumänien ist – noch vor wenigen Jahren unvorstellbar – EU-Mitglied. Zwischen diesem heutigen Rumänien und dem Rumänien, wie es sich die meisten Menschen in Deutschland vorstellen, liegt eine ziemlich große Distanz.

Das Rumänien, wie es sich die meisten vorstellen, ist obskur, katastrophal, fürchterlich und auf unangenehme Weise exotisch. Es ist das Rumänien von Ceauşescu, Drakula und Straßenkindern.

Letztere waren jahrelang ein Lieblingsthema der Medien: Kinder, die am berühmt-berüchtigten Bukarester Nordbahnhof leben, die Klebstoffdämpfe einatmen, Waisenheime, in denen die Kinder wie Tiere gehalten werden, Kinder, die irgendwohin verkauft werden. Ja, sogar bei der Europäischen Union stand das Thema der Waisen- und Straßenkinder lange Zeit ganz oben auf der Prioritätenliste. Andere Themen betreffen ganz allgemein das Elend und die Verwahrlosung in Rumänien. Die in manchen Regionen extreme Armut; der Mangel an Warmwasser, Heizung, Benzin, Gas; Cholera- und Meningitisepidemien. Ja, all das gibt es, und manchmal wirkt es schockierend. Es ist gut, dass solche Dinge im Ausland zur Sprache kommen und gezeigt werden, denn würden sie nicht gezeigt werden, würden der rumänische Staat und die rumänische Öffentlichkeit sich oft nicht um sie kümmern. Aber selten ist die Optik der Medien eine Optik der Relationen. Selten wird nach den Hintergründen gefragt, selten ist wirkliche Anteilnahme zu spüren. Selten wird deutlich, dass es viele Menschen in Rumänien gibt, die ihr Land und sich selbst verändern wollen. Selten wird vor allem eines beschrieben und gezeigt: Dass die Menschen in Rumänien trotz allem Stolz und Würde besitzen.

Selbst vernünftige Menschen fragen immer wieder ernsthaft nach Drakula und Vampiren. Ist das vielleicht das exotische Spiegelbild der allzu wahren Schreckensnachrichten? Liegt es daran, dass Rumänien so lange unbekannt und abgeschottet war? An der mysteriösen Ausstrahlung des Namens Transilvanien, mit dem wir Bilder von wilden Karpaten-Schluchten und undurchdringlichen Wäldern assoziieren? Oder daran, dass das rumänische Tourismus-Ministerium Mitte der neunziger Jahre „wissenschaftliche Drakula-Kongresse“ organisierte? Oder liegt es an einer modernen Drakula-Version, die Ende der achtziger Jahre in den Westen hinüberschwappte: nämlich der in Rumänien verbreitete Glaube, der Diktator Ceauşescu habe sich regelmäßig Bluttransfusionen verabreichen lassen, für die Waisenkinder getötet wurden? Wie dem auch sein mag: In Rumänien hat es, wie überall, genügend blutrünstige Herrscher gegeben – Blut trinkende nicht. Freilich haben keine Tatsachen und keine noch so akribischen historischen Studien den Drakula-Legenden und der Popularität solcher Bücher wie Bram Stokers „Dracula“ (1897) etwas anhaben können.

Der Reiseschriftsteller und Romancier Karl Emil Franzos, in Galizien geboren, in der ostjüdischen Metropole Czernowitz  aufgewachsen und 1904 in Berlin gestorben, pflegte einen liebevollen, aber auch ironischen Blick auf die ganze Region von Rumänien bis Südrußland. Er nannte sie einfach „Halb-Asien“. Für ihn war „Halb-Asien“ eine Region“weniger bekannt als Afrika“ und eben: „halb barbarisch, halb gesittet“.

Rumänien ist natürlich weder „barbarisch“ noch „ungesittet“. Es gibt Gründe, dies zu betonen. Seit Mitte der neuniziger Jahre Gruppen von rumänischen Kriminellen in Deutschland aktiv waren und die deutsche Polizei Sokos „Rumba“ (für: „Rumänien-Bande“) aufstellte, kommen Rumänen in den auflagenstärksten deutschen Zeitungen und Nachrichtenmagazinen meistens als verachtenswerte Kreaturen, als eine Art Untermenschen vor: als mit allen Wassern gewaschene Bettler und Betrüger, die hemmungslos deutsche Sozialhilfe abzocken, als archaische Kriminelle, die in Erdlöchern und Wäldern hausen, selbstgewilderte Kaninchen verspeisen, mit brachialer Gewalt statt mit Geschick einbrechen und alles niederschießen, was ihnen den Weg versperrt. Dabei trägt Gewaltkriminalität in Deutschland weitaus erschreckendere Züge als in Rumänien, steht ein Auto auf Bukarester Straßen sicherer als in Budapest und wirkt die rumänische Mafia gegen die bulgarische oder die serbische und erst recht die russische dürftig und harmlos.

Rumänien ist ein ex-kommunistisches Land. Nicht irgendeines. Das Regime des größenwahnsinnigen Diktators Nicolae Ceauşescu und seiner allmächtigen Geheimpolizei Securitate war eines der gefürchtetsten in ganz Osteuropa. Mit seiner Autarkiepolitik trieb Ceauşescu Rumänien in eine totale wirtschaftliche Rückständigkeit und soziale Verelendung. Unter allen osteuropäischen Ländern fand 1989 einzig in Rumänien ein blutiger Aufstand gegen die Diktatur statt, bei dem über tausend Menschen umkamen. Einzig in Rumänien herrschten die ehemaligen Kommunisten auch nach dem Sturz der Diktatur weiter. Noch im Dezember 1989 manövrierte sich der Ex-Kommunist Ion Iliescu an die Macht und errichtete sieben Jahre lang ein reformfeindliches, nationalistisches, halbautoritäres Regime. Erst im November 1996 wurde er abgewählt. Doch der Wandel, der mit dem Wahlsieg demokratischer Parteien hätte stattfinden sollen, scheiterte. Die Amtszeit des ersten demokratischen Staatspräsidenten der rumänischen Geschichte, Emil Constantinescu, war geprägt von haarsträubenden wirtschaftskriminellen und Korruptionsaffären, von politischen Streitigkeiten, und sie mündete auf ihrem Tiefpunkt, Anfang 1999, in das Desaster des Bergarbeiter-Aufstandes, als Constantinescu zur Verteidigung gegen die zu Recht verzweifelten, aber auch irregeleiteten Bergarbeiter Panzer auffahren ließ und kurz davor war, den Ausnahmezustand ausrufen zu lassen.

Als Reaktion auf dieses Desaster kam nach den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 200 noch einmal Ion Iliescu an die Macht, wobei sein Gegner in den Stichwahlen, der Antisemit, ehemalige Ceausescu-Hofpoet und Führer der ultranationalistischen „Großrumänien“-Partei, Corneliu Vadim Tudor, in den Stichwahlen immerhin ein Drittel der Stimmen erhielt. Unter dem „dritten Iliescu-Regime“ entwickelte sich seine regierende „Sozialdemokratische Partei“ mehr als in allen vorangegangenen Jahren zu einer korrupten und wirtschaftskriminellen Oligarchie. Dennoch: Seit dem Jahr 2000 normalisierte sich Rumänien langsam.

Mit dem Amtsantritt des populistischen Staatspräsidenten Traian Băsescu ist Rumänien endgültig aus der Rubrik des „Sonderfalls“ in Osteuropa ausgeschieden. Doch anderthalb Jahrzehnte nach dem Sturz der Diktatur steht Rumänien in gewissem Sinne noch immer am Anfang des Übergangsprozesses, den Länder wie Ungarn oder Polen abgeschlossen haben. Nach den Mühen der Berge, nach den Mühen, eine Orientierung zu finden, folgen nun die Mühen der Ebene. Rumänien ist dabei die Formen, die es gewählt hat, mit Inhalt füllen, durchaus ernsthaft, häufig mit gemischten Erfolgen. Die Elite des Landes hat die Sprache des heutigen, vereinten Europas und der EU ausgezeichnet übersetzt und spricht sie zumeist hervorragend. Begriffe wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Markwirtschaft gehen den meisten rumänischen Politikern leicht über die Lippen. Oft jedoch scheint es, als sei ihnen ihr Inhalt fremd.

Es wäre falsch, die Schuld an all dem allein auf die Ceauşescu-Diktatur und die Schwierigkeiten des Übergangs zu schieben. Obwohl die rumänischen Kommunisten, wie ja die Kommunisten überhaupt, einen totalen Bruch mit der alten (bürgerlichen) Gesellschaft, mit ihrer Ökonomie und ihren Wertvorstellungen propagierten, wies ihre Herrschaft in mancherlei Hinsicht eine Kontinuität zum vorherigen Gesellschaftsmodell auf, sei es gewollt, sei es nur reflexartig. Dies gilt insbesondere für die Ära des Diktators Ceauşescu. Die dynastisch-totalitäre Herrschaft, der Autarkiewahn, die Sucht nach Modernisierung um jeden Preis, die megalomanische Extravaganz, der Nationalismus und Rumänozentrismus – all das sind wichtige Konstanten in der rumänischen Geschichte, wenn sie auch meistens nicht in so extremer Form hervortraten wie unter Ceauşescu.

Der Übergang von der Diktatur zu einer demokratischen Gesellschaft ist in Rumänien weniger eine Rückkehr zu einem einstigen Zustand, als vielmehr ein historischer Neuanfang. Um verständlich zu machen, warum Rumänien dieser Neuanfang so schwer fällt, liegt der Schwerpunkt des Buches auf der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung des Landes. Dabei versucht das Buch dem Leser und der Leserin Rumänien aus einer Perspektive nahezubringen, die die heutige Befindlichkeit der rumänischen Gesellschaft ernst nimmt und zugleich kritisch untersucht: Rumänien als Land, das jahrhundertelang unter Fremdherrschaft litt, das sich als an der Peripherie gelegene, als verspätete oder zurückgebliebene, als unverstandene oder ignorierte Nation fühlt, als Land, das nach wie vor einen großen Teil seiner Anstrengungen darauf verwendet, seinen Platz in der Geschichte und seine kulturelle Identität zu bestimmen.

Für die Hilfe bei Kontakten, für zahlreichen Hinweise zu einzelnen Problemen, für Kritiken und für die Durchsicht von Teilen des Manuskriptes möchte ich mich bei Freunden, Kollegen und Gesprächspartnern bedanken. Erwähnt seien Cristina Alexe, Péter Bányai, Dietmar Bartz, Magda Cârneci, Nora Costache, Sorin Drăghici, Péter Eckstein-Kovács, Hans-Herbert Grünwald, Mariana Hausleitner, Cornel Ivanciuc, Csilla Könczei, Ion Bogdan Lefter, Horia Roman Patapievici, István Rostás, Mathias Rüb, Simona Popescu, Ágnes Saszet, Erwin Single, Cristina Stoica. Christine Zeile, Carola Samlowsky und Petra Rehder vom C.H.Beck-Verlag danke ich für ihre Geduld und Mühe, Rezensenten für ihre kritischen Anmerkungen und Hinweise auf Fehler, die mir unterlaufen sind und die ich in den Neuausgaben korrigiert habe. Mariana Celac und Nicolae Gheorghe gilt meine Bewunderung für ihre Persönlichkeiten und ihre Arbeit wie auch mein ganz besonderer Dank für viele Gespräche, die mir beim Verständnis Rumäniens und seiner Gesellschaft geholfen haben. Schließlich und vor allem möchte ich Rodica Ciobanu danken. Ohne sie wären mein Blick auf Rumänien und viele meiner Kenntnisse über das Land oberflächlich geblieben.