Streusand-Krise und Knochenregen. Vom Alltag auf der kleinen Straße

Die Bauten des großen, sozialistischen Boulevards sind auf der Vorderseite mit allerlei Stukkatur, Spiegelglas und bunter Reklame geschmückt. Hinter dieser Fassade verstecken sich schamhaft ein paar nackte, quadratische Neubaublocks von jeweils vier Etagen Höhe. Vor und zwischen den Blöcken wächst überwiegend Unkraut. Es gibt aber auch einige hübsche Vorgärtchen, die mit Stacheldraht eingezäunt sind. Das also ist die kleine Straße. Hier wohnen mittlere Beamte, Einzelhändler, mäßig situierte Rentner sowie mehrere ausgesucht höfliche, aber völlig undurchschaubare Koreaner.

Es ist nicht leicht, in die kleine Straße einzudringen. Das eine Ende bewacht eine Familie, die einen verzogenen Sohn und zwei frei laufende Kampfhunde hält. Am anderen Ende blockieren mehrere Karosserien von Totalschaden-BMWs und ein riesiges Schlagloch die Zufahrt mit dem Auto. Außerdem kommt es häufig vor, dass Vorbeigehende von herabregnenden Knochen oder angeschimmelten Brotrinden getroffen werden.

 

„Passanten werden von herabregnenden Knochen oder angeschimmelten Brotrinden getroffen.“

 

Überhaupt werfen die Anwohner fast alle Essenreste aus dem Fenster. Dahinter verbirgt sich keinesfalls eine totale Missachtung der Grundregeln urbanen Zusammenlebens. Vielmehr füttern die Anwohner so die Straßenhunde durch. Diese sind gleichberechtigte Mitbenutzer von Vorgärten, Hauseingängen und Höfen, sie halten die Gegend frei von fremden Straßenkötern und tragen allesamt Namen.

Sie heißen Paco, Rico, Linda oder Viviana. Das sind die Namen von allein stehenden Millionären und ihren attraktiven Hausgehilfinnen aus mexikanischen und brasilianischen Vorabendserien. Die Schicksale aus den Serien zählen bei den Rentnerinnen aus der kleinen Straße zu den beliebtesten Gesprächsthemen. Sie streiten nach dem Einkaufen oder vor dem Mittagessen auf der Straße lauthals über mögliche Fortsetzungen oder darum, wer der beste Schwiegersohn sei.

Im Allgemeinen ist das Leben auf der kleinen Straße jedoch unspektakulär. Ein Angestellter von der Kabelfernseh-Gesellschaft reißt hin und wieder alle Drähte aus den Verteilern in den Hausfluren, weil die Abonnenten keine Monatsgebühren bezahlen. Doch die Anwohner reparieren den Schaden schnell wieder. Einmal im Vierteljahr geht die Thermozentrale für einige Wochen in Revision. Das warme Wasser wird dann abgestellt. Im Winter fällt manchmal für einige Tage die Heizung aus, und bei starkem Regen funktionieren die Telefone nicht mehr.

Ab und zu haben die Anwohner der kleinen Straße freilich Pech. Wie in diesem Frühjahr, als die unterirdische Gasleitung vor der Hausnummer 11, Block D 6, Eingang A genau auf der Straßenmitte platzte. Die Gasarbeiter, die die Leitung binnen zwei Wochen reparierten, kamen jeden Tag pünktlich um Mitternacht. Während der zweistündigen Arbeitszeit schimpften sie meistens auf ihre Ehefrauen oder diskutierten die Fußballergebnisse.

Nach der Reparatur blieben zwei große Sandhaufen auf der Straße zurück, auf denen jetzt meterhoch Disteln wachsen. In weiser Voraussicht hat niemand den Sand entfernt. Denn im nächsten Winter gibt es sicherlich wieder eine Streusand-Krise.