Der Politologe Afrim Krasniqi vom Albanischen Institut für Politische Studien in Tirana über die Bedeutung der Parlamentswahl vom 25. Juni 2017, über die politische Krise der letzten Monate in Albanien und darüber, wie es im Land weitergehen müsste, damit die Bürger eine Zukunftshoffnung haben und das Land den Weg der EU-Integration erfolgreich gehen kann.
Keno Verseck: Worin sehen Sie die Bedeutung der albanischen Parlamentswahl vom 25. Juni, vor allem im Kontext des Drogenproblems, der politischen Krise der letzten Monate und der schwierigen Justiz- und Verwaltungsreform?
Afrim Krasniqi: Die Wahl ist vor allem ein politischer Test, der zeigen wird, ob und inwiefern Albanien in der Lage ist, höhere Wahlnormen zu gewährleisten. Die Wahl ist ein auch Test für die aktuelle Regierung und ein Test für die Vereinbarung die zwischen der Opposition und der herrschenden Mehrheit im Mai 2017 mit großer Mühe erreicht wurde. Größere politische Änderungen und ein eindeutiger politischer Wechsel kann von dieser Wahl erwartet nicht werden. Die langhaltende Krise des letzten Herbstes wurde durch eine Vereinbarung zwischen der Demokratischen Partei Albaniens (DP) und der Sozialistischen Partei Albaniens (SP) gelöst, und sie führte zu einem Experiment, das die Einbeziehung von „technischen“ Ministern aus der DP-geführten Opposition im SP- Geführte Regierung mit sich brachte. Die Debatte über die Verbreitung von Drogen in Albanien wurde umfassend als ein schlagkräftiges politisches Argument verwendet, solange die Opposition und die Regierung keine Einigung erzielt hatten. Als sie dann den Deal abgeschlossen hatten, erklärten beide Seiten ihr langfristiges Engagement, Drogen und Kriminalität zusammen zu bekämpfen. Sie haben versprochen, das Ergebnis der Wahl anzuerkennen und sich gemeinsam für die Integration in Albanien einzusetzen. Wenn dies wirklich passiert, wäre es das erste Mal in der Geschichte der albanischen Wahlen dass es eine „große Koalition“ gibt. Es ist sehr positiv, dass es mit der Reform des Justizsystems weitergeht, nachdem viele politische und technische Barrieren überwunden wurden. Auch wenn viele albanische Politiker die Reform des Justizsystems im Grunde als Bedrohung wahrnehmen, wird niemand in der Lage sein, sie endlich zu stoppen. Es ist anzumerken, dass die albanischen Bürger die Reform des Justizsystems als einen von außen auferlegten Prozess wahrnehmen, anstatt etwas, das aus eigener Initiative herauskommt. Sie unterstützen sie als einen entscheidenden Bestandteil der Erneuerung der Politik im Land.
Wie sieht die Bilanz des Ministerpräsidenten Edi Rama der letzten vier Jahre aus, was sind die negativen, was die positiven Punkte seiner Regierung?
Die Rama-Regierung kam mit großen Hoffnungen und großen Erwartungen an die Macht. Rama muss man für seinen Erfolg bei der Territorialreform, bei der Kontrolle über das Territorium, bei der Umsetzung wichtiger Reformen im Bildungs- und Energiesektor Anerkennung zollen. Er hat ein effektiveres Steuersammelsystem eingerichtet. Auch hat Rama Erfolg gehabt mit seinen Bemühungen für die Schaffung positiver Beziehungen mit anderen Ländern in der Region, vor allem mit Serbien. Die Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der Reform des Justizsystems waren weitere wichtige Schritte, die unter der Rama-Regierung stattfanden. Auf der negativen Seite steht, dass es im Parlament und im öffentlichen und politischen Leben Personen mit Strafregister gibt. Die Rama-Regierung hat im Hinblick auf ihre Wahlversprechen eine parallele Agenda eingerichtet. Die Rama-Regierung verschlechterte auch die monopolistische Situation auf dem heimischen Markt. Öffentliche Unternehmen wurden durch nicht transparente Verfahren privatisiert und sie wurden an bevorzugte Firmen ausgegeben. Viele Beamte der öffentlichen Verwaltung wurden gefeuert, um Platz für Parteiförderer zu machen. Ramas arrogante Regierungsführung machte Albanien durchaus autoritärer.
Was bedeutet es, dass, wie schon in einigen anderen Fällen der letzten Zeit, wieder einmal die USA die politische Krise des Landes gelöst oder jedenfalls zeitweilig befriedet hat?
Der Einfluss der Europäischen Union ist seit mehreren Jahren in der Region auf dem Rückzug. Albanien ist davon nicht ausgeschlossen. Die politischen Eliten setzen mehr auf die bilateralen Beziehungen, das heißt, auf die Beziehungen zu Berlin oder Paris, als auf die Beziehungen zu den Brüsseler Bürokraten. Die Erklärung von Herrn Juncker über die Unterbrechung der EU-Erweiterung auf dem Balkan ließ die EU ohne eine gültige Alternative für unsere Region. Die Wirtschafts- und Migrantenkrise verlagerte die EU-Prioritäten von der Unterstützung der Demokratie zur Unterstützung der Stabilität. Die USA spielen eine größere Rolle als die EU, weil sie in Bezug auf Krisensituationen effektiver wirken und außerdem imstande sind, stärkere Impulse zur Lösung von Krisensituationen zu geben. Anders als die EU betrachten die USA weiterhin die funktionale Demokratie als ihre Priorität. Deutschland hat eine positive Rolle bei der Lösung der jüngsten albanischen Krise gespielt, und zwar durch die McAllister-Vorschläge, doch war die US-Intervention notwendig, um die Verhandlungen endlich zu einem Abschluss zu bringen. In Tirana sehen wir keine Konkurrenz zwischen den USA und der EU. Wir sehen eine komplementäre Anstrengung beider Seiten. Die Albaner sind starke Unterstützer der Präsenz der EU und der USA auf dem Balkan. Beide werden als Garanten für Stabilität und für funktionale Demokratie wahrgenommen. Wenn sich die EU und die USA aus der Region zurückziehen, würde dies das Feld für andere Akteure offen lassen und das würde sicher zu Instabilität führen. Die neue Realität erfordert eine stärkere EU-Agenda für den Balkan. Diese Agenda sollte unbedingt konkreter als die Erklärung des Thessaloniki-Gipfels von 2014 sein.
Was ist Ihre Prognose für die Zeit direkt nach dieser Wahl? Bisher hat eine Wahl in Albanien ja immer zu neuen Krisen geführt?
Es ist das erste Mal, dass wir erwarten, dass eine albanische Regierung ein zweites Mandat bekommt, das stärker ist als das erste. In der normalen Politik geschieht das, wenn die Regierung besser als erwartet funktioniert hat und bessere Ergebnisse erzielt hat als erwartet. So funktioniert es in Albanien nicht. Die Gründe für dieses stärkere zweite Mandat der gegenwärtigen herrschenden Mehrheit finden sich in der großen Schwäche der Opposition, im problematischen albanischen Wahlsystem und in der schrecklichen Vetternwirtschaft der albanischen Parteien. Die Wahlen vom 25. Juni sollten für Albanien eine langfristige politische Stabilität gewährleisten, eine Fortsetzung des politischen Abkommens zwischen der Sozialistischen Partei und der Demokratischen Partei und weitere einvernehmliche Schritte, die auf „große Reformen“ gerichtet sind. In Ländern wie Albanien sind die zweiten Regierungsmandate in der Regel vergeudete Mandate, gekennzeichnet von einem unglaublich hohen Maß an Korruption. Im Jahre 2017 braucht Albanien so etwas nicht mehr. In den frühen 1990er Jahren waren die meisten Albaner ziemlich unerfahren, ihnen fehlte eine funktionierende politische Elite, ihre Hoffnung in die Zukunft ermöglichte es ihnen jedoch, große Schritte zu gehen. Jetzt, nach 27 Jahren, sind die Albaner reifer, sie haben viele Erfahrungen gesammelt, sie haben eine politische Elite hevorgebracht, aber sie haben den Glauben verloren. Die Bürger erwarten konkrete Ergebnisse aus den Bestrebungen für die Korruptionsbekämpfung. Albanien leidet unter einer großen Vertrauenskrise, da das Vertrauen in das politische System und die Hoffnung in der Zukunft verloren gegangen ist. Ich denke, dass der Fokus für die kommenden Jahre auf der Reform des Justizsystems und auf der Reform des politischen Systems liegen soll. Mehr sollte getan werden, um die Korruption zu bekämpfen und die Wirtschaft zu fördern.
Interview: Keno Verseck