Bundeskanzerlin Angela Merkel besucht den Westbalkan, Europas instabilste und ärmste Region. Die serbische Politikanalystin Jelena Milic fordert einen Marshallplan – nur so könne die Region aus ihrer Krise herausfinden. Zugleich fordert sie von den eigenen Eliten mehr Initiative.
Keno Verseck: Frau Milic, der Besuch der deutschen Bundeskanzlerin in Tirana, Belgrad und Sarajevo ist mit hohen Erwartungen verknüpft. Zu Recht?
Jelena Milic: Deutschland und die westliche Gemeinschaft sind im Augenblick mit vielen Problemen beschäftigt. Der Westbalkan ist sicher nicht die Priorität. Aber ich hoffe, Angela Merkel bringt etwas Positives mit. Deutschland hat seit einiger Zeit die Führung in der Westbalkan-Politik übernommen. Das ist gut.
Mit dem so genannten Berlin-Prozess, der letztes Jahr mit einer Westbalkan-Konferenz in Berlin begann, sollen Demokratie und wirtschaftliche Stabilität in der region gefördert werden. Hatte die bisherige EU-Politik auf dem Westbalkan den falschen Ansatz?
Milic: Die EU hatte in den letzten Jahren überhaupt keinen Ansatz. Deshalb wäre es gut, wenn Deutschland seine Führungsrolle auf dem Westbalkan ernst nimmt und ausfüllt.
Viele Beobachter sind der Ansicht, der EU sei es zu lange nur um Stabilität gegangen, sie habe zu wenig auf die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat geachtet.
Milic: Ich würde das relativieren. Ja, alle Länder in der Region stecken in Entwicklungen, die eine üble Wendung nehmen können. Anderseits ist ein Ergebnis der vielen Millionen, die der Westen in die Region investiert hat, auch, dass es eine gewisse demokratische Öffentlichkeit gibt, die Defizite kritisiert, was dann wiederum auch in die EU-Fortschrittsberichte zur Region einfließt.
Was sollte die EU in ihrer Politik auf dem Westbalkan anders machen?
Milic: Ich denke, sie sollte den formalen Integrationsprozess beschleunigen. Sie könnte eine Visa-Liberalisierung für das Kosovo einführen oder mit Serbien mindestens ein Kapitel der Beitrittsverhandlungen eröffnen. Ein beschleunigter Integrationsprozess auf dem Westbalkan könnte zu einer politische Reife führen, die der EU hilft, uns zu helfen.
Aber die EU ist erweiterungsmüde.
Milic: Sicher, die Erweiterung ist derzeit keine Priorität, aber ich beobachte eher eine EU-Müdigkeit in den Kandidatenländern selbst. Sogar mehr: Lippenbekenntnisse zur EU, ohne dass man es wirklich ernst meint. Die Eliten gewinnen mit diesen Bekenntnissen Wahlen, aber sie tun nichts, um EU-Regeln umzusetzen, denn damit würden sie ihre eigenen Privilegien abschaffen.
Die soziale Situation auf dem Westbalkan ist desaströs. Sollte die EU sich in diesem Bereich mehr engagieren?
Milic: Die EU kann nicht alles machen. Sie könnte aber mehr regionale Kooperation anschieben. Was wir brauchen ist eine Art Marshall-Plan für den Balkan. Aber dazu muss es auch Impulse aus der Region geben. Wir haben immer Entschuldigungen für unsere schlechte Situation parat. Das ist leichter, als rund um die Uhr zu arbeiten. Wir, die Bürger, müssen unsere Regierungen zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zwingen.
Wie soll so ein Marshall-Plan aussehen und wer bezahlt ihn?
Wir brauchen vor allem Infrastrukturentwicklung. Straßen, gute Telekommunikation, Energie-Infrastruktur. Und zwar nach EU-Regeln.
Wer soll das finanzieren?
Investoren aus der EU und den USA, außerdem die Regionalförderungsfonds der EU. Wichtig ist, dass dabei eine regionale Kooperation entsteht.
Eine solche Kooperation fordert auch die EU immer wieder ein, meistens vergeblich. Zum Beispiel gibt es immer noch riesige Hürden zwischen Serbien und Kosovo.
Milic: Ich habe 1999 die Bombardierung meiner Heimat Serbiens akzeptiert, weil ich fand, dass die serbische Armee in Kosovo gestoppt werden muss und dass es kein anderes Mittel gab. Ich denke heute, dass die internationale Gemeinschaft keinerlei Standards entwickelt hat, wie man das Eigentum teilen kann. In Kosovo heißt es, alles, was dort ist, soll auch Kosovo gehören. Ja, vielleicht, aber auch die serbische Stimme sollte gehört werden, denn letztlich geht es bei all diesen Fragen auch um die Zukunft der serbischen Bevölkerung in Kosovo. Und wenn am Ende unterm Strich steht, dass Kosovo kein multiethnischer Staat mehr ist, dann wäre das kein Erfolg.
Sollte Serbien Kosovo anerkennen?
Milic: Das ist für Serbien solange eine schwierige Frage, solange es fünf EU-Staaten und eine Uno gibt, die Kosovo nicht anerkennen. Ich meine, Serbien sollte Schritte unternehmen, die nicht direkt eine Anerkennung bedeuten, die aber praktisch in diese Richtung gehen, damit Kosovo vorankommt. Aber Serbien ist nicht der Knackpunkt in dieser Sache. Hier muss die EU etwas tun. So wie man sich bemüht, eine gemeinsame Position in der Ukraine-Russland-Frage zu finden, muss das auch für Kosovo geschehen.
Serbien ist das wichgste Land des Westbalkans. Wie beurteilen Sie den Zustand der serbischen Demokratie?
Milic: Wir haben große Probleme im Bereich des Minderheitenschutzes, bei der Unabhängigkeit der Medien und mit der Verfolgung der Kriegsverbrechen aus den 1990er Jahren. Kürzlich gab es eine riesige Regierungskampagne gegen den Ombudsmann, weil er die Menschenrechtslage kritisiert hatte. Insgesamt ist die Rechtsstaatlichkeit ein großes Thema – die Regierungspartei SNS des Ministerpräsidenten Aleksandar Vucic will ihren Einfluss auf die Justiz nicht aufgeben, weil sie sie als Mittel sieht, um gegen Opponenten vorzugehen.